Sechs Millionen Deutsche

Am Mikro steht Daniel Kahn. Er trägt einen schwarzen Anzug, Hut, Bart. Er blickt befremdet auf sein Publikum. Nach jedem Refrain von „Nakam“ (Rache) fügt er an: „You might say it isn’t right“, es ist nicht richtig, so zu denken.

„Ich mag das Lied nicht mehr spielen.“ Seit fünf Jahren lebt der 32-jährige US-Amerikaner in Berlin, sein Deutsch wird besser, der Fankreis größer. Sein drittes Album mit der Band „The Painted Bird“ ist gerade erschienen: „Lost Causes“. Am 20. Januar wird im Festsaal Kreuzberg seine Deutschlandtournee beginnen. Und dann will das Publikum wieder, dass er das Lied spielt. „Egal ob Deutsche oder Juden, viele mögen es aus den falschen Gründen, wie zum Beispiel Rache. Das Lied befremdet Menschen.“ Und mittlerweile auch ihn selbst. Daniel Kahn seufzt. In T-Shirt und Jeans sitzt er ein paar Tage später an seinem Schreibtisch. „Ja, es ist Verfremdungsklezmer, ich weiß...“, Verfremdung im Sinne Bertolt Brechts. Schon in seinem Theaterstudium inspirierte ihn der Dramatiker. Überspitzung soll zum Nachdenken anregen, „Sechs Millionen Deutsche“, bisher funktionierten die Verfremdungseffekte für ihn sehr gut. Bekannt und doch befremdlich klingt für deutsche Ohren die jiddische Sprache, in der Daniel Kahn neben der englischen singt. „Dumai“, das Lied „Denk nach“ ruft sensible Bilder hervor. „Oif der Moyer steyt a Zelner“, auf der Mauer steht ein Soldat. Erst langsam, in schwerem Schlagrhythmus mit Sprech- und Gruppengesang, dann immer schneller, ertönt ein Lied über Grenzen, „oifn Land und in die mentshn“, heute in „Yisroel und Falestina“. Daniel Kahn lebt in Berlin-Neukölln inmitten arabisch-türkischer Nachbarschaft. Der Namensgeber der Straße, Karl Marx, findet sich auch in seiner Wohnung. Das kommunistische Manifest steht auf dem Holzregal neben jiddischer Lyrik und Leonard Cohen. Alt, neu, arabisch, jüdisch, deutsch, er mixt aus Prinzip. Kahn steht auf. Ganz anders als auf der Bühne, wo er hinter Ziehharmonika und Megafon scheinbar verschwindet, wirkt er in seinem Zimmer groß und kräftig. Er fährt sich mit der Hand übers schmale Gesicht und sagt, Verfremdung komme so oder so. Für das Theaterstück „Warten auf Adam Spielmann“ hat er viel darüber nachgedacht. Im Ballhaus Naunynstraße in Berlin spielt er darin ab Februar die Hauptrolle. „Es gibt diese Idee des abstrakten ‘Juden’ als der ‘Andere’. Aber in dieser Welt werden immer mehr Gruppen zu Fremden, Gastarbeitern, Exilanten oder Ausländern. Und diese Gruppen sind nie wirklich in der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert“, sagt Kahn, „weil sie in sich den Keim der Verfremdung tragen.“ Daniel Kahn kommt aus Detroit, die jüdische Reformgemeinde seiner Eltern teilte sich die Nachbarschaft mit iranischen Exilanten. Seine Mutter, eine Kindergärtnerin, lebt noch dort. Sein Vater starb letztes Jahr. Jetzt stockt seine Stimme. „In meiner Grabrede begriff ich, was für ein großer Teil er von mir ist. Er hat mir den Wert von Liedern beigebracht. Das ist die beste Art, Ideen zu konservieren. Eine perfekte Kommunikationseinheit, um Gefühle zu vermitteln, Geschichten zu erzählen, zu erinnern...“ Seine Eltern und Detroit machten aus den ersten Verfremdungsmomenten einen Keim der Inspiration. Nach dem Studium wandte er die Technik in New Orleans in der Blues- und Theaterwelt an. Dann kam die Klezmer-Musik in New York und mit dem Jiddisch Deutschland. Hier führt er das Leben in der Fremde einen Schritt weiter. Und ist selbst befremdet? Seine dunklen Augen blicken nachdenklich aus dem Fenster. Er sagt leise, manchmal gäbe es Momente, in denen er sich in nationalistischen Wahrnehmungsmustern verfängt. Und vielleicht sei er dann bei Deutschen sensibler als bei anderen. Neulich wurde er als Jiddischsprecher ins Radio eingeladen. Alle dort waren begeistert von ihm. Sie sagten, wie toll es sei, solch coole Juden wie ihn zu treffen. „Ich kam mir vor wie ein jiddisches Souvenir!“

Meistens fühlt er sich verstanden. Wie viele der Juden seiner Generation denkt er in Berlin immer die Vergangenheit mit. Den Krieg, die Verfolgung, den Holocaust. Und in Verbindung mit dem Leben vor dem Bruch, dem Leben von Verwandten, die in denselben Häusern lebten, die sie heute wieder bewohnen, entsteht Befremdung und gleichzeitig der Blick für die Heimat in der Fremde.